Nach neun Tagen Wandern durch das Annapurna-Gebiet sitzen wir nun seit Stunden am Flughafen von Jomsom fest, dem einzigen in dieser Region. Wir sind gestrandet. Die Wolkendecke versperrt uns nicht nur die Sicht auf den über 7000 Meter hohen Nilgiri-Gletscher, sie verhindert auch, dass das Flugzeug landet.
90 Kilometer Fußmarsch und eine überwundener Höhenunterschied von 1400 Metern liegen hinter uns. Für mich waren die 3700 Meter Seehöhe am Ende neuer persönlicher Rekord (womit soll ich als Österreich denn schon aufwarten?), für die echten Himalaya-Haudegen lachhaft: Wir haben dort umgedreht, wo die Strecke in einem 12-Stunden-Marsch über einen 5500 –Meter hohen Pass geht – für die 21-Tage Variante, den berühmten Annapurna-Circuit. Vergleichsweise Schnuppertraining also und zugleich Vorgeschmack auf mehr, dennoch: Wir fühlen uns ausreichend beansprucht und blicken mit Genugtuung zurück: Der Treck führte uns durch fast ausgetrocknete Flusstäler in Dörfer, scheinbar lose zusammengesetzt aus Steinen. Die grünen Felder, die diese Dörfer umgeben, wirken in der ansonsten felsig-karstigen, beinahe wüstenähnlichen Gegend unwirklich. Gelobtes Land, das die wenig verbliebene Feuchtigkeit im Boden optimal zu nützen weiß. Uns begegnen Buddhisten in ihren Klöstern, die uns Lammblut in aufgeschnittenen Menschenknochenschädel zeigen, mit dem sie am Tag darauf die Dämonen vertreiben wollen. Die Nähe Tibets wird spürbar. Gebetsfahnen verzieren Innenhöfe. In einem Kloster entdecken wir alte Schriftrollen, die vor der chinesischen Invasion Tibets hierher gerettet worden sind. Am geographischen Höhepunkt unserer Reise, in Mukthinat, treffen wir auf ein räumliches Arrangement der Hinduisten und Buddhisten, offensichtlich für beide ein heiliger Ort, schützen sie sich mit einer gemeinsamen Mauer und Stacheldraht. Innen drin sehe ich erstmals in meinem Leben wilde Hanfpflanzen wachsen – wofür Ökumene gut sein kann…
Die Gegend ist auf Touristen ausgerichtet, Zelte nicht notwendig. Wir schlafen in Lodges, die keinen Wunsch offen lassen: Mars, Twix, Chips, Flaschenbiere in mehreren Sorten. Alles herbeigeschleppt von Eseln und Pferden, die vollbepackt während der Tage unseren Weg kreuzen. Der Versuch der regionalen Community, Preis- und Qualitätsstandards im Gebiet zu wahren, konfrontiert uns täglich mit einer Einheitsspeisekarte. Das Wagnis, den Besuchern aus allen Ländern (von Mexiko bis Italien) gerecht zu werden, lässt die regionalen Gerichte handverlesen erscheinen: Tibetisches Brot, köstliche Reis-Curry-Gerichte und sogar hausgemachter Apfel-Brandy geben eine genussvolle Ahnung von der Raffiniertheit einheimischer Küche. Vor manchen Restaurants sehen wir große parabol-ähnliche Spiegel aus Aluminium. Wer es als Empfangsgerät für Globus umspannendes Fernsehen identifiziert, der irrt. Dort wo normalerweise der Empfänger steht, wartet eine Art Tee-Kessel darauf, von der im Aluspiegel reflektierenden Sonne erhitzt zu werden. (Kennt das noch wer aus Yps mit Gimmick?) Amüsant das Blechschild des Sponsors am Fuße des relative großen Gestells: Rogner-Therme Austria. Später sehen wir weitere, finanziert von den „Austrian Friends“.
Noch herrscht hier Nebensaison: Die Teehäuser und Lodges putzen sich heraus mit frischer Farbe, um sich für die Masse der Touristen zu rüsten, die in den kommenden Monaten im Herbst auf eine geringere Regenwahrscheinlichkeit und weniger Wolken setzt. Wenn sie nur wüssten, was ihnen entgeht: Meist sind wir die einzigen Gäste, ungestört und ohne Mitreisende, die uns den Blick auf die umliegenden Achttausender versperren könnten. Grüne Vegetation sieht man nur in diesen Tagen, wie uns unser Guide erläuert, auch für ihn das erste Mal. Sich täglich wiederholendes Mikroklima schenkt uns Abwechslung: Abends beginnen wir das lustige Ratespiel, hinter welchen Wolken sich die schneebedeckten Spitzen des Himalayamassivs verbergen, bis frühmorgens Köpfeverrenken angesagt ist. Aus allen Himmelsrichtungen lugen die sonnenbeschienenen,grell und unbefleckt weiß strahlenden Gipfel durch die Wolken durch. Wir können uns kaum sattsehen, auch wenn sich das Schauspiel noch Tage wiederholen sollte. Bergspitzen, noch einmal fünf-, sechstausend Meter höher als wir, wirken wie aus einer anderen Welt, im wahrsten Sinn überirdisch. Bei rund 20 Grad im Schatten und stärker werdenden Wind, der uns beim Gehen Sand ins Gesicht bläst, scheint das mächtige Weiß hinter den erdig-braunen Bergen wie ein winterlicher Gruß, dennoch zugleich Respekt einflössend.
Auch der obere Bereich des Kali-Gandaki-Valleys, so der Name des Tals, das wir per pedes bereisen, bleibt uns verschlossen. Der Eintritt von 700 USD soll die Masse von der 12 Tagewanderung abhalten und schonende Entwicklung sicherstellen. Auch landschaftliche Schönheit hat offensichtlich ihren Preis und braucht die nötige Zeit. Es ist zugleich der Eintritt in das Königreich Mustang. Lässt man sich von dieser Eintrittsumme nicht abschrecken, steht eine größere logistische Planung bevor: Zelte und Essen müssen mitgetragen werden, ein Guide, Träger und mehrer Köche bilden gemeinsam mit einer Unzahl von Pferden und Eseln den Convoy. Am Ende des Tals, es bildet zugleich die chinesisch-tibetische Grenze, erwartet einen der König, mit dem man um umgerechnet 1,50 Euro Tee trinken kann und sich fotografieren lassen kann. „Tag der offenen Tür“ in der Wiener Hofburg quasi nix dagegen. Beim nächsten Mal. Versprochen!
Am anderen Ende des Tals wiederum schaut die Welt anders aus: Die Maoisten halten ein Dorf besetzt, wir wollen nichts riskieren. Unser Träger musste diesen, seinen Heimatort, verlassen, um vor ihnen zu fliehen, mehr als fünf Jahre Schulbildung war für ihn nicht möglich. Ein Dorf am Weg informiert penibel über die statistische Situation: 636 Einwohner, 40 % Analphabeten…
Aus Kathmandu erreicht uns mittlerweile die Nachricht, dass die Blockade der Maoisten aufgegeben worden ist. Zuvor hatte es bereits geheißen, dass an jenem Tag, an dem wir vorsorglich den Flug raus aus Kathmandu genommen hatten, ein Touristenbus nur unter Militärschutz das Tal hatte verlassen können. Bis heute wissen wir nicht sicher, ob die Situation tatsächlich so dramatisch war, wie uns CNN und Agenturmeldungen aus Europa glauben ließen. In einer drei Tage alten Zeitung, die wir gestern am Ende unserer Wanderung ausfindig machen konnten, wird gewitzelt, dass auch die Einwohner von Kathmandu von der Art der Berichterstattung in den internationalen Fernsehsendern überrascht waren, mit der Wirklichkeit hatte es nicht viel gemein. Kann es sein, dass Medien manchmal übertreiben? Kann es sein, dass man nicht alles glauben darf, was man im Fernsehen sieht…?
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